Wie Sehen wir?
Das Auge funktioniert wie ein Fotoapparat. Das von Gegenständen reflektierte Licht strahlt zuerst auf die äußere durchsichtige Hornhaut. Sie besitzt ca. 70% der gesamten Licht-Brechungskraft des Auges. Die auftreffenden Lichtstrahlen werden hier zur Pupille hingelenkt. Die einfallenden Lichtstrahlen werden von der Augenlinse noch einmal gebrochen, so dass die Strahlen genau die Netzhaut (Retina) treffen. Das erfolgt durch die kontrollierte Dickenänderung der Linse, was den Brechungsindex der Linse ändert. Dieser Vorgang wird als Anpassung (Akkomodation) des Auges bezeichnet. Während die Brechung eines jungen Auges unter 20 Dioptrien bleibt, kann dieser Wert 30 Dioptrien betragen bei der oben erwähnten Anpassung. Auf diese Weise kann das Auge weite und nahe Gegenstände klar und deutlich sehen. Die Lichtstrahlen durchdringen zuletzt eine gelartige Substanz (Vitreus) und fokussieren auf der Netzhaut. Die Netzhaut funktioniert wie ein Film. Die einkommenden Lichtstrahlen werden von der Netzhaut in elektrische Energie umgewandelt und über die Augennerven in das Gehirn weitergeleitet, wo diese Signale verarbeitet und als Bilder wahrgenommen werden.
Funktionen
Fixation
Bei Fixation auf einen festen Punkt steuert unser Gehirn die Augenstellung so, daß beide Augen beim Sehen genau auf diesen Punkt gerichtet sind. Beim Blick geradeaus in die Ferne stehen somit beide Augen mit ihren Sehachsen zueinander parallel. Ein Objekt wird dann in beiden Augen in der Netzhautmitte (Stelle des schärfsten Sehens) abgebildet. Randbereiche des Objektes oder daneben stehende Dinge liegen auf einem anderen Netzhautort in einem bestimmten Abstand von der Netzhautmitte. Alles, was wir mit der Netzhautmitte ansehen, erscheint uns in der Richtung als geradeaus. Da das Bild, das in unseren Augen von der Umwelt entsteht, höhen- und seitenverkehrt ist und erst im Gehirn wieder aufgerichtet wird, sehen wir etwas, das z. B. an einem Netzhautort links von der Netzhautmitte abgebildet wird, als rechts von geradeaus. So besitzt jede Netzhautstelle ein bestimmtes Richtungsempfinden, das in beiden Augen identisch ist. Diese Deckungsgleichheit beider Netzhäute wird Netzhautkorrespondenz genannt. Wenn ein Auge einen Gegenstand fixiert und das andere Auge vom Geradeausblick abweicht, liegt ein Schielen vor. Beim Schielen wird der Gegenstand in dem abweichenden Auge auf einer anderen Netzhautstelle als im fixierenden Auge abgebildet. Diese andere Netzhautstelle hat auch einen anderen Richtungswert. Der Gegenstand erscheint somit doppelt: Mit dem fixierenden Auge sehen wir ihn geradeaus, mit dem abweichenden Auge an einem anderen Ort. Im täglichen Leben treten aber auch ständig andere Doppelbilder auf, deren Wahrnehmung unser Gehirn unterdrückt. Alles, was sich z. B. vor oder hinter einem fixierten Objekt befindet, erzeugt Doppelbilder. Wir können uns dieses Phänomen leicht vergegenwärtigen, wenn wir z. B. einen Finger erhoben vor unsere Augen halten, aber gleichzeitig in die Ferne, z. B. aus dem Fenster schauen: Der Finger erscheint doppelt. Die Tatsache, daß die Dinge, die wir direkt anschauen, uns nicht doppelt erscheinen, verdanken wir der Fusion. Darunter versteht man die Fähigkeit, die Seheindrücke beider Augen zu einem einzigen Bild zu verschmelzen. Ohne Fusion würden die Augen in eine individuelle Ruhelage abweichen, in der man dann meist doppelt sieht. Ist die Fusion beeinträchtigt, z. B. durch Müdigkeit oder Alkohol, treten bei ca. 80 % aller Menschen Doppelbilder auf. Bei ihnen liegt also ein verborgenes Schielen (Heterophorie) vor, das nur zu Tage tritt, wenn die Fusion unterbrochen wird. Eine noch höhere Leistung als die Fusion stellt das räumliche Sehen, die Stereopsis, dar. Da beide Augen ja einen gewissen Abstand voneinander haben, erscheint jedem Auge ein anfixiertes Objekt in einem geringfügig anderen Blickwinkel, d.h. in jedem Auge entsteht ein etwas anderes Bild. Die Verschmelzung dieser beiden Bilder im Gehirn führt zum räumlichen Sehen.
Farbsehen
Der englische Physiker Isaac Newton entdeckte um 1670 durch Versuche mit einem Prisma, dass das weiße Sonnenlicht aus verschiedenen Farben besteht. Ein Prisma fächert das Licht in die Farben des Regenbogens von violett bis rot auf. Erst später wurde durch den englischen Arzt und Physiker Thomas Young (1773 – 1829) nachgewiesen, dass das Licht sich wie eine Welle mit Wellenbergen und -tälern verhält. Misst man die Strecke zwischen zwei Wellenbergen, erhält man die Wellenlänge des Lichtes. Wir können mit unseren Augen Licht der Wellenlängen zwischen ca. 400 und 800 Nanometer (nm), d.h. zwischen vier und acht Millionstel Millimeter, sehen. Dieses Licht lässt sich durch ein Prisma in Farben, d.h. in verschiedene Wellenlängen, zerlegen. Je nach Wellenlänge, die unser Auge erreicht, nehmen wir verschiedene Farben wahr. Im sichtbaren Spektrum zwischen 400 und 800 Nanometer können wir etwa 160 reine Farben und Hunderttausende von Farbnuancen unterscheiden. Doch in den Zapfen unserer Netzhaut findet man nur drei unterschiedliche Pigmente, die auf die Farben blau (445 nm), grün (535 nm) und gelb (570 nm) reagieren. Aber diese Reaktion ist nicht sehr exakt. Die Pigmente reagieren auch auf angrenzende Farben des Spektrums. Dadurch wird sichergestellt, dass das gesamte Spektrum des sichtbaren Lichtes, z. B. auch die Farbe rot, vom Auge wahrgenommen werden kann. Störungen der Farbempfindung können angeboren oder im späteren Leben durch Erkrankungen erworben sein. Von angeborenen Farbsinnstörungen sind ca. 8 Prozent aller Männer und 0,2 Prozent aller Frauen betroffen. Ihnen unterlaufen für die jeweilige Störung typische Farbverwechslungen, wobei es sich in den meisten Fällen um Rot-Grün-Störungen handelt. Dem Augenarzt stehen verschiedene Geräte und Farbtafeln zur sicheren Diagnose zur Verfügung. Eine Therapie angeborener Farbsinnstörungen ist jedoch nicht möglich.
Gesichtsfeld
Als Gesichtsfeld wird derjenige Bereich der Umwelt bezeichnet, der bei ruhig geradeaus blickendem Auge wahrgenommen wird. Ein normal großes Gesichtsfeld eines Auges reicht nach oben bis ca. 60°, nach unten bis ca. 70°, nach außen (d.h. zur Schläfe hin) bis ca. 90° und nach innen (d.h. zur Nase hin) bis ca. 60°. Blicken beide Augen ruhig geradeaus auf einen Punkt, wird ein größerer Ausschnitt der Umwelt wahrgenommen, das beidäugige Gesichtsfeld. In ihm gibt es einen großen zentralen Bereich, der mit beiden Augen gleichzeitig gesehen wird. Der rechte Außenbereich wird nur vom rechten, der linke Außenbereich nur vom linken Auge gesehen. Ein normal großes Gesichtsfeld ist für unsere Orientierung im Raum unentbehrlich. Bei sehr starker Einengung des Gesichtsfeldes kann deshalb trotz voller Sehschärfe praktische Erblindung vorliegen. Die Untersuchung des Gesichtsfeldes wird Perimetrie genannt. Mit Hilfe der Perimetrie können Ausfälle (Skotome) im Gesichtsfeld nachgewiesen werden. Ursache für solche Ausfälle sind Erkrankungen der Netzhaut, des Sehnervs oder der weiterführenden Sehbahn im Gehirn. Jedes Auge hat aber auch einen natürlichen Ausfall, den blinden Fleck. Er wird durch die Austrittsstelle des Sehnerven verursacht, der ja keine Zapfen oder Stäbchen zur Lichtwahrnehmung besitzt.
Adaption
Unter Adaptation versteht man die Fähigkeit des Auges, sich verschiedenen Helligkeiten der Umgebung anzupassen. Dadurch ist es möglich, sowohl in grellem Sonnenlicht als auch in dunkler Nacht zu sehen. Die Anpassung an Dunkelheit wird hauptsächlich durch die Stäbchen der Netzhaut geleistet. Sie enthalten als lichtempfindliche Substanz den Sehpurpur (Rhodopsin), der unter Lichteinwirkung zerfällt. Bei zunehmender Dunkelheit wird er wieder aufgebaut und ermöglicht ein Sehen bei Nacht. Diese Dunkeladaptation ist ein langsam ablaufender Prozess, der in der Regel eine halbe Stunde benötigt. Im dunkeladaptierten Zustand arbeiten die für das Tag- und Farbensehen verantwortlichen Zapfen der Netzhautmitte nicht. Deshalb beträgt in der Dunkelheit die Sehschärfe nur ca. 1/10 der Sehschärfe bei heller Beleuchtung, und Farben können in der Dunkelheit nicht unterschieden und nicht wahrgenommen werden. Die Helladaptation verläuft wesentlich schneller als die Dunkeladaptation und dauert nur ca. drei bis zehn Minuten. Der Adaptationszustand der Netzhaut wird durch Blendung gestört. Dies spielt vor allem beim Autofahren in der Dämmerung und bei Nacht eine Rolle, wenn man durch die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge geblendet wird. Dem Augenarzt stehen verschiedene Geräte zur Untersuchung der Adaptationsfähigkeit des Auges zur Verfügung, die besonders zur Beurteilung der Nachtfahrtauglichkeit von Bedeutung sind.
Sehschärfe
Voraussetzung für scharfes Sehen ist eine Abbildung unserer Umwelt auf der Netzhautmitte. Dazu müssen Lichtstrahlen, die von einem Gegenstand in unserer Umgebung reflektiert werden, im Auge so gebrochen werden, dass sie eine scharfe Abbildung auf der Netzhaut erzeugen können. Dieser Vorgang, der vor allem in der Hornhaut und der Linse erfolgt, wird Lichtbrechung (Refraktion) genannt.
Die Hornhaut hat den größten Anteil an der Lichtbrechung. Sie vereinigt zusammen mit der Linse die Lichtstrahlen in einem Punkt, dem Brennpunkt. Der Abstand zwischen Hornhaut und Linse einerseits und diesem Brennpunkt andererseits wird Brennweite genannt. Diese Brennweite ist kennzeichnend für die Stärke einer Linse bzw. eines Linsensystems. Als Brechkraft bezeichnet man den Kehrwert der in Metern (m) angegebenen Brennweite. Die Einheit der Brechkraft ist die Dioptrie (dpt). Eine Brechkraft von 1 dpt entspricht beispielsweise einer Brennweite von 1 m, eine Brechkraft von 3 dpt einer Brennweite von 1/3 m = 33,3 cm und eine Brechkraft von 5 dpt einer Brennweite von 1/5 m = 20 cm.
Die Hornhaut besitzt eine Brechkraft von ca. 43 dpt. Die Brechkraft der Linse beträgt beim Blick in die Ferne ca. 19 dpt. In diesem Ruhezustand ist die Linse sehr dünn, und Bilder in der Ferne werden scharf abgebildet. Um nun auch in der Nähe scharf zu sehen, muss die Brechkraft der Linse erhöht werden. Dies gelingt über eine Anspannung des Ziliarmuskels, an dem die Linse über Fasern aufgehängt ist. Wenn sich der ringförmige Ziliarmuskel anspannt, erschlaffen die Fasern. Dadurch kann sich die Linse mehr der Kugelform annähern. Sie erhöht damit ihre Brechkraft. Diese Einstellung des Auges auf ein scharfes Sehen in der Nähe wird Akkommodation genannt.
Mit der Bestimmung der Sehschärfe (Visus) wird die Funktion der Stelle des schärfsten Sehens geprüft (Abbildung).
Dabei wird untersucht, wie weit zwei Punkte voneinander entfernt sein dürfen, um gerade noch getrennt wahrgenommen zu werden. Zwei Punkte können nur dann als getrennt wahrgenommen werden, wenn in der Netzhaut zwischen zwei gereizten Zapfen ein ungereizter Zapfen liegt. Da die Anzahl der Zapfen von der Netzhautmitte zu ihren Randbereichen hin abnimmt, sinkt auch die Sehschärfe mit der Entfernung von der Stelle des schärfsten Sehens ab.
Die Sehschärfe wird ab einer, bestimmtem Entfernung geprüft. Für die Ferne sind es in der Regel 5 oder 6 Meter, für die Nähe 33 oder 40 Zentimeter. Die durchschnittliche Sehschärfe gesunder Augen beträgt 1,0. Dieser Wert ergibt sich, wenn man in einer Prüfentfernung von z. B. 5 Metern zwei winzige Objekte in einem Abstand von etwa 1,4 Millimetern gerade noch getrennt wahrnehmen kann. Eine Sehschärfe von 1,0 ist aber nicht das Ende der Skala. Gesunde Augen können auch eine Sehschärfe von 1,2 oder 1,6 oder noch bessere Werte erreichen. Die Sehschärfe ist u. a. abhängig von der Beleuchtung, dem Kontrast und der individuellen Aufmerksamkeit. Für die meisten Tätigkeiten des täglichen Lebens reicht eine geringere Sehschärfe als 1,0 aus, für bestimmte Tätigkeiten (z. B. das Führen eines Kraftfahrzeuges) ist aber eine gute Sehschärfe vorgeschrieben und enorm wichtig.
Es gibt verschiedene Sehzeichen (Optotypen), mit denen die Sehschärfe geprüft werden kann. Meist werden für die Ferne Ziffern (oder Buchstaben) verwendet. Für Kinder stehen Bildtafeln zur Verfügung. Bei der Geburt haben Säuglinge noch keine volle Sehschärfe. Es dauert etwa drei Monate, bis die Stelle des schärfsten Sehens ausgereift ist. Danach steigt die Sehschärfe langsam an.